Martin Amis: Bunyola Station
Bunyola

Im Zug von Sóller nach Palma herrschte ein striktes Klassensystem. Der Waggon der ersten Klasse war ein richtiger mobiler Salon, eine Art Boudoir, vollgestopft mit Teppichen, Sofas, Bildern und schwankenden Kronleuchtern an der Decke. Die zweite Klasse glich einer bürgerlichen Barbierstube mit Ledersesseln, Spiegeln und Antimakassars auf den Kopflehnen. Aber wenn ich allein reiste, bevorzugte ich die nackten Holzbänke der dritten Klasse, aus einem Grund, der mir heute ziemlich durchtrieben vorkommt. In jenen stillen, ordentlichen, mit Menschen angefüllten Waggons bestand die Möglichkeit etwas zu beobachten, was man im protestantischen Norden niemals zu sehen bekommen hätte, nämlich Mütter, die ihre Kinder stillten. Auch wenn der Nacken der Säuglinge mir wohl kaum hübsch erschien, so muss ich gestehen, dass mir vor allem das Vorher und Nachher gefiel. Niemand sonst sah hin; niemand schenkte dem Vorgang auch nur die kleinste Aufmerksamkeit. In einem Land, wo die Bikini tragenden Touristinnen unter Einsatz von Pistolen festgenommen wurden, gab es noch diese virtuose Nacktheit, für alle unsichtbar außer für jenen auf der Lauer liegenden ausländischen Jungen, dessen Gedanken schon längst nicht mehr rein waren.

Experience [Erfahrung], 2000

Übersetzt von Claudia Kalasz.

Martin Amis

(Swansea, 1949). Britischer Romanschriftsteller, Sohn des Schriftstellers Kingsley Amis. Er studierte in Oxford. Mit dem Roman The Rachel Papers (1973 ausgezeichnet mit dem Somerset Maugham Award) feierte er ein glänzendes literarisches Debüt. Er verfasste Romane, Kurzgeschichten, autobiografische Bücher und Essays. Er hat für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften geschrieben wie etwa "Times Literary Supplement", "Sunday Times", "The Observer" oder "The New York Times". Zu seinem umfangreichen Werk gehören die Romane Time's Arrow (1991), Night Train (1997), oder seine Memoiren Experience (2000).

Users opinions

This etno has no comments yet.